Krame gerade in meinen alten Unterlagen und finde eine Mail-Tirade aus den frühen Tagen unseres Zusammenlebens. Damals, als ich noch nicht auf dem Pfad der Weisheit war. Damals, als ich mich noch aufregte.
Liebe …
dass der Weg zum literarischen Erfolg ein steiniger werden würde, hatte ich erwartet, doch manche Herausforderungen sind härter als ich es mir je hätte alpträumen lassen.
Gerade sitze ich mit ungewaschenen, bereits juckenden Haaren in einer öffentlichen Bibliothek und versuche mich auf das Schreiben eines Krimis zu konzentrieren. Bisher hatte ich es immer für einen Marketing-Gag gehalten, wenn ich las, das J.K.Rowling ihre ersten Seiten angeblich in Cafés schrieb, weil es bei ihr zuhause zu kalt war. Ich dachte immer, wer Geld für eine Kaffeehausrechnung hat, der hat auch welches für Strom und Heizung.
Aber heute bin ich nun bereit, meine Meinung zu ändern. Vielleicht lebte die gute Rowling ja auch mit vier Jungs in einer WG?
Seit gestern Abend war klar, dass wir ab heute morgen keinen Strom mehr haben zu würden. Seit gestern Abend um sechs wissen wir, dass wir im Minus sind und in einen örtlichen Lebensmittelladen gehen müssen, um neues Guthaben zu kaufen. (Die Stromfirma ist so menschenfreundlich, den Strom nur abzuschalten, wenn auch die Läden geöffnet sind, also ist man nachts und am Wochenende sicher.)
So betrachtet war es natürlich blöd von mir, nicht noch gestern Nacht schnell unter die Dusche zu springen und auf Vorrat meine Haare zu waschen. Da habe ich nicht mitgedacht. Stattdessen dachte ich unbelehrbares Naivchen, dass schließlich auch alle anderen Bewohner Zeug in Kühl- und Gefrierschrank haben.
Warum lerne ich nicht dazu, und höre auf von anderen zu erwarten, dass sie dazu lernen?
Der Grund, warum ich versuche mich zu weigern, immer für das Stromaufladen zuständig zu sein ist folgender: Mitbewohner 1 schuldet mir noch drei Pfund vom letzten Aufladen, Mitbewohner 2 noch fünf vom Vorletzten (beim letzten war er nicht da und musste nicht mitzahlen), Mitbewohner 3 schuldet mir noch fünf vom allerersten Aufladen. Er verschob das Bezahlen seiner Schuldigkeit so lange, bis sich niemand mehr außer mir daran erinnern konnte. Im Durchschnitt muss ich jede der vier Personen zwischen drei und fünf Mal erinnern und da sie sich weigern, für mehr als 30 Pfund aufzuladen (‚sonst verschwendet man soviel’), wiederholt sich dieser Vorgang alle zwölf bis fünfzehn Tage.
Das grundsätzliche Problem sind unterschiedliche Vorstellungen von Dringlichkeit.
Zum Beispiel wird für mich das Kaufen von neuer Seife dringlich, wenn nur noch zehn Prozent in der alten Flasche drin sind. Für meine Jungs wird es dringlich, wenn das Duschgel und das Geschirrspülmittel, das man als Ersatz benutzt hat, endgültig leer sind.
Für mich wird der Erwerb neuen Klopapiers dringlich, wenn nur noch zwei Rollen da sind. Für meine Jungs wird es erst relevant, wenn sie mit dreckigem Arsch auf dem Klo hocken und selbst die Papiertaschentücher aufgebraucht sind.
Wobei sich auch hier ein kultureller Unterschied aufzeigt. Meine irischen Jungs sind wie beschrieben. Mein deutscher Mitbewohner sieht das Problem oftmals schon kommen und will dann wirklich gerne und ausführlich darüber reden. Das Klopapier geht zur Neige, was um Gottes Willen könnte man in solch einer Situation nur tun? Welcher Termin passt, damit wir uns alle mal zusammensetzten und das diskutieren können?
Mir ist dabei noch nicht so klar, ob diese unterschiedlichen Lebensanschauungen dem unterschiedlichen Alter oder dem unterschiedlichen Geschlecht geschuldet sind. Klar ist, dass es einzig an mir liegt: Ich will zu viel. Ich will immer mindestens zwei Dinge gleichzeitig, die sich gemäß eines Naturgesetztes widersprechen:
Ich will, dass Leute bestimmte Dinge tun ABER ich will sie nicht dazu zwingen müssen. Ich will, die Schulden beglichen haben, ABER ich will nicht als penetrant wahrgenommen werden. Ich will, dass wir ausreichend Strom und Seife und Klopapier haben, ABER ich will nicht alleine die Rechnung für fünf Leute zahlen. Ich bin sogar im tiefsten Inneren so vermessen zu wollen, dass meine Jungs sich ändern, ABER ich bin nicht bereit den pädagogischen Preis in Form von ungewaschenen Haaren und verdorbenen Lebensmitteln zu zahlen. (Zumindest bis gestern, heute bin ich ja schon im Prozess innerer Reife begriffen.)
Verglichen damit sind meine Jungs die reinen Philosophen. Sie wollen höchstens maximal eine Sache, die aber dann sofort. Gestern Abend wollten sie zum Beispiel drei Stunden über Fußball reden. Sie wollten nicht fünf Minuten über Strom reden und konsequent wie sie sind, haben sie das dann auch nicht getan.
Damit waren sie ein großes Vorbild für mich, während ich mir nur töricht den Abend vermieste, indem ich still vor mich hinmurmelte: Ich werde DIESMAL nicht das Thema aufbringen. DIESMAL soll sich jemand anders drum kümmern. DIESMAL soll sich jemand anders ärgern.
Und so sitze ich nun ungeduscht mit juckenden Haaren in der Bücherei und kann stolz sein, dass sich DIESMAL ganz offensichtlich jemand anders ärgert.
Ansonsten haben mich meine Philosophen so weit erzogen, dass ich stillschweigend Klopapier, Seife und Putzmittel kaufe, ohne jemand mit meinen Problemen zu belästigen. Nur mit dem Strom haben sie mich noch nicht so weit.
Gerade bin jetzt ich in eifrigen SMS-Kontakt mit meinem deutschen Mitbewohner, der mich dringend überreden will, mich doch um den Strom zu kümmern, aber ich stelle mich auf stur. Ich bin die einzige im Haus mit Kerzen, ha-ha.
Die stammen noch vom letzten Mal.
Da kam als besonderes Feature hinzu, dass Mitbewohner 2, in dessen Zimmer sich die Stromladestation befindet, sich auf einwöchentlicher Studienreise befand. Glücklicherweise hatte er seinen Zimmerschlüssel tatsächlich Mitbewohner 4 hinterlassen, also kam er nur darauf an, sich mit ihm zu verabreden. Als ich mit dem Strom-Gutschein vom Laden zurückkam, war aber wieder niemand zuhause. Also klebte ich das Ding gut sichtbar auf Augenhöhe an die verschlossene Tür mit der Ladestation, damit der Schlüsselträger bei seiner Rückkehr sofort in Aktion treten konnte. Dann ging ich in die Bibliothek. (Hin und wieder will ich ja noch an einem Buch arbeiten, Gott alleine weiß, was mich auf diesen Gedanken gebracht hat.)
Als ich Stunden später heimkam, fand ich Mitbewohner 1 in Kälte und Dunkelheit fröhlich vor einer Kerze sitzen. Inzwischen hatte sich folgendes ereignet:
Mitbewohner 4, der entscheidende Schlüsselträger, war heimgekommen und hatte vorausschauend den Schlüssel außen in die Tür der Ladestation gesteckt, damit ich, wenn ich denn den Gutschein hätte, die Tür öffnen und den Ladevorgang vollziehen könnte. Während er dies tat, schaffte er es zu übersehen, dass der Gutschein bereits direkt vor ihm an der Tür klebte. Dann ging er zur Uni.
Das war ein Rückschlag auf dem steinigen Weg zum Strom. Jedoch befanden sich nun Gutschein und Schlüssel in einer optimalen Position für den Aufladevorgang für den Moment, indem die nächste Person das Haus betreten würde. Dies war Mitbewohner 1, zurück vom Besuch eines öffentlichen Schwimmbads um dort eine Dusche zu nehmen, weil das ja bei uns zurzeit nicht ging. (Ölheizung läuft nicht ohne Strom.)
Zurück im Haus waren seine Strombedürfnisse jedoch erfüllt (siehe oben, immer nur eine Sache auf einmal) und er beachtete Schlüssel und Gutschein nicht, sondern ging in zwanzig Zentimeter Abstand an ihnen vorbei zu seinem Zimmer und legte sich schlafen. Als er wieder aufwachte, war es draußen dunkel und so erwachte wieder ein Strombedürfnis in ihm. Doch nun war es zu dunkel im Haus, um den Gutschein zu sehen, also zog er los und holte sich Abendessen aus der Frittenbude, Kerzen aus dem Supermarkt und war stolz, das Problem so effektiv gelöst zu haben.
Ich will dich nicht weiter langweilen, aber abschließend kann ich nur sagen, dass die ganzen Warnhinweise auf Tiefkühlprodukten bezüglich Verfallsdaten, Auftauen und Wiedereinfrieren und Lebensmittelvergiftung in allgemeinen nur üble Panikmache sind. Zehn Stunden Stromausfall halten die locker aus. Ich kann also nur allen Krimischreibern nur davon abraten, Lebensmittelvergiftungen als Mordmethode einzusetzen. Das klappt in der Realität nie.
Das war zumindest das Ergebnis des Experiments vom letzten Montag. Aber heute ist ja schon eine Woche später und wir starten wieder ein Neues. Es sieht ganz so aus, als würden die zehn Stunden diesmal schlagen.
Mit elektrisch geladenen Grüßen
Deine Robin in Belfast